Die Welt bei uns

Jetzt sprechen wir mal über die Welt bei uns. Wie ja jeder mitbekommen hat, kommen zur Zeit sehr viele Leute aus Kriegsgebieten zu uns. Wie einige von euch wissen, bin ich aktiv beteiligt an der Erstaufnahme. Davon würde ich ganz gern erzählen. Natürlich sind es nur sehr persönliche und subjektive Eindrücke, aber vielleicht tragen sie ein bisschen zum Verständnis bei.

In Kuba erreichten uns die Neuigkeiten: Massiver Ansturm von Flüchtlingen in München. Stadt und Land und EU total überfordert. Große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, aber totale Verwirrung  und völlige Handlungsunfähigkeit in der Politik.

Wir sind ja über Frankfurt geflogen und deshalb mit dem Zug am Hauptbahnhof angekommen. Die Zelte und Absperrungen und das erhöhte Polizeiaufkommen war wahrnehmbar, allerdings von Chaos keine Spur. Eine befreundete Polizeibeamtin, die dort eingesetzt war, sah das allerdings anders.  Ohne freiwillige Helfer gehe gar nichts. Die Polizei bemühe sich bis zur Selbstaufgabe, den Flüchtlingen ein freundliches Willkommen zu zeigen, es gebe aber zum Teil aufgrund des massiven Ansturms Probleme mit Versorgung und Hygiene. Zu wenig Toiletten, zu wenig Polizisten, zum Teil zu wenig Wasser (es war ja noch sehr heiß Anfang September) usw. Zum Glück gebe es viele Privatleute, die mithelfen.  Nun ja, wir waren jetlagged und haben auch nicht so richtig aufgepasst und vielleicht war auch gerade kein Zug aus den östlichen Regionen angekommen.

Ich wollte mir nach all den unterschiedlichen Nachrichten und Sichtweisen erst einmal einen persönlichen Eindruck von der Lage verschaffen.

Zuerst habe ich mich an meinem Wohnort im „Speckgürtel“ von München umgesehen. Dort leben ein paar Flüchtlinge in Containern. Sie fallen im Straßenbild nicht auf, sind ruhig und friedlich und offenbar gut versorgt.

Also fuhr ich nach Dornach ins Durchgangslager, ein leerstehendes Bürogebäude mit Platz für 2.500 Leute. Zuerst schaute ich mich in der Caféteria um.

Dort waren Körbe mit Essen aufgebaut, das verteilt werden sollte, es gab Kaffee und Tee und verschiedene Fisch- und Kalbfleischdosen, Marmelade, Nutella und Toastbrot. Wir sollten die von der Regierung zur Verfügung gestellten Sandwichpakete verteilen. Ein Berg mit geschätzten 500 Tüten lag da, einige Helfer machten sich daran, diese zu sortieren. Innerhalb kürzester Zeit waren wir fertig. Der Käse, der in den Sandwichpaketen war, war weitgehend abgelaufen und seit Tagen nicht gekühlt, das Brot zum Teil verschimmelt. Daher haben wir alle Lebensmittel angeschaut, die noch zumutbaren Inhalte auf Körbe verteilt und an die Leute ausgegeben, den Rest zur Entsorgung.

Die Leute reagierten sehr unterschiedlich. Viele waren sehr erschöpft und dankbar, endlich irgendwo zur Ruhe zu kommen. Andere erklärten uns, sie haben seit Tagen nichts anderes als Sandwichpakete bekommen und baten um etwas Warmes. Wieder andere fragten nach Obst und manche  fragten, ob es in der Nähe einen Laden gebe.

Ein älterer Mann schaute sich das Angebot lange an und erkundigte sich genau, was in den Fischkonserven drin sei. Ich erklärte ihm so gut wie möglich die Inhalte, worauf er seinen Geldbeutel zückte und eine Dose kaufen wollte. Als ich ihm erklärt habe, dass er von allem nehmen darf, soviel er will, war er völlig fassungslos und weinte fast vor Freude.

Ein anderer war mit seiner Tochter und dem Enkelkind da. Die Tochter war etwa 18 Jahre alt, das Enkelchen noch ein Baby. Er sprach ganz gut Englisch, denn er hatte in Syrien ein Hotel, das allerdings zerbombt wurde. Vom Tourismus kann man dort ohnehin nicht mehr leben, aus naheliegenden Gründen. Er erzählte mir von der 3-wöchigen Flucht über Griechenland, Türkei, Ungarn. Das Baby mussten sie den ganzen Weg tragen. Das Mädchen war völlig erschöpft. Er erklärte mir, dass sie Fisch so hasst, dass sie ihn einfach nicht herunterkriegt. Sie habe seit 4 Tagen praktisch nur trockenen Toast gegessen, weil es überall nur Fisch gibt für die Moslems. Sie sind aber Christen. Ob ich einen Laden in der Nähe wüsste, er habe Geld. Es war 19.30 Uhr, der nächste Laden ca. 20 min zu Fuß entfernt. Ich hoffe, er hat ihn noch erreicht vor Geschäftsschluss.

Die Leute sind in der Einrichtung immer nur ein paar Stunden, dann werden sie weiter verteilt. Sie wissen nicht, wann und wohin. Sie kommen hier allenfalls ein bisschen zur Ruhe. Wir versuchen, ihnen diese Zeit einigermaßen angenehm zu gestalten.

Insgesamt war es wie immer und überall: Es gab viele sehr nette Leute, einige nicht so nette, einige, die so erschöpft waren, dass sie gar nicht mehr geredet haben und einige, die eine deutliche Anspruchshaltung hatten. Menschen halt, die auf unterschiedlichste Art auf die Erlebnisse reagieren, die hinter ihnen liegen. Aggression war zu keiner Zeit zu spüren.

Irgendwann kam jemand auf die Idee, man könnte ja asiatische Tütensuppen organisieren, die mit dem heißen Wasser aus dem Teekocher zubereitet werden können, die einzige Möglichkeit, was Warmes herzustellen. Jemand schickte einen Aufruf zur Spende über die entsprechende fb-Seite und innerhalb von Stunden brachten Privatleute Pakete vorbei. Die Hilfsbereitschaft ist unglaublich. Ähnliche Aufrufe, was immer fehlte, von Damenbinden über Deos über Rasierer über Obst über Brot, herbeizuschaffen, wurden alle innerhalb kürzester Zeit umgesetzt. Leute besorgten sich aus kooperierenden Super- und Drogeriemärkten die entsprechenden Waren und brachten sie vorbei, zum Teil kauften sie einfach auf eigene Rechnung ein. Beim zweiten Mal, als ich dort war, war das Angebot schon deutlich verbessert. Wohlgemerkt: Ohne jede Mithilfe von Seiten der Behörden. Alles im Alleingang ehrenamtlicher Helfer und von Privatleuten, die einfach mal mitmachten.

Die einzigen „Offiziellen“, die ich gesehen haben, waren Security-Leute, die halfen, wo es ging und ehrenamtliche Mitarbeiter der Johanniter, die die Leitung der Einrichtung übernommen hatten. Außer den Securities wurde keiner der Anwesenden für seine Leistung bezahlt. Viele arbeiteten und arbeiten bis heute bis zur Erschöpfung, in Nachtschichten, in 24-Stunden-Schichten, was eben gerade nötig ist.

Alle bemühen sich nach Kräften, die Herkules-Aufgabe so gut wie möglich zu stemmen, obwohl es anfangs praktisch keine Organisation gab. Natürlich hakte es hier und dort, innerhalb kurzer Zeit wurde es aber immer professioneller. Die Zahl der Helfer nimmt bis heute nicht ab, eher zu. Die Schwarzseherei in den Medien ist nicht in Einklang zu bringen mit dem schier unglaublichen Engagement der Leute.

Ich bin dann, als es in der Caféteria ruhiger wurde, in die Kleiderkammer. Dort musste gebrauchte Kleider von offenbar hauptsächlich großen und schwergewichtigen Männern an die eher kleinen und dünnen Flüchtlinge verteilt werden. Hier kam es zu geradezu rührenden Szenen.

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Ein Mann, dem wir mit viel Geduld und unter langem Suchen einen Fleece-Pulli gefunden hatten, wollte nicht glauben, dass das ein Kleidungsstück für Männer ist. Er fragte mehrmals bei mir nach und deutete immer wieder auf mein eigenes Fleece-Shirt, anscheinend sah es für ihn so aus, dass nur Frauen sowas tragen. Nachdem er sich noch bei zwei weiteren Helfern rückversichert hatte, dass ich ihm die Wahrheit sage, dass es sich nämlich um ein Unisex-Kleidungsstück handele, bedankte er sich überschwänglich und verriet, warum er das unbedingt wissen wollte: Er wolle nicht in einem neuen Land ankommen und eine neue Zukunft anfangen und das erste, was ihm passiert, ist, dass ihn die Einheimischen auslachen, weil er Frauenkleider trägt. Sprach’s und strahlte mich mit seinen silbernen Eckzähnen an.

Ein anderer schlüpfte in eine viel zu große Outdoor-Jacke und fragte mich, ob die gut aussehe. Ich meinte, na ja, das ist sicher eine gute Jacke, aber sie ist ein bisschen groß. Da noch eine Firmenspende im Lager war mit lauter nagelneuen roten Daunenjacken, bot ich ihm so eine in seiner Größe an. Er war gleich begeistert und wollte unbedingt ein Foto mit mir und ihm und der Jacke und erklärte mir, er schicke das Foto an seine Familie, damit die sich keine Sorgen machen, dass er frieren müsse.

Einige Leute beschweren sich über die Ansprüche der Flüchtlinge. Verschiedentlich habe ich gehört, die seien ja besser gekleidet als man selbst und würden nur die modischen Sachen nehmen, anstelle für jeden warmen Pullover dankbar zu sein. Ich gebe folgendes zu bedenken:

Es handelt sich  hauptsächlich um junge Männer zwischen 18 und 30, die vor den Kriegen in ihrer Heimat eine ganz normale Existenz hatten. Natürlich hatten sie in Syrien oder im Irak oder woher auch immer sie kommen, sportliche, einigermaßen praktische und modische Kleidung, die in dem Alter angemessen und normal ist, weltweit.  In ihrer Heimat waren viele durchaus arriviert und konnten sich auch die coolen Sachen leisten. Deutschland gilt als Schlaraffenland. Klar wollen die am liebsten erst mal nur adidas Turnschuhe und entsprechende Klamotten.  Das mag man jetzt undankbar finden, aber, bitte, Leute, ihr habt doch auch Kinder in dem Alter! Die möchten halt ein bisschen cool ausschauen, wenn sie schon sonst nichts mehr haben! Keine Heimat. Keine Freunde. Keine Familie. Keinen Job. Ich verstehe das. Ordentlich gekleidet zu sein ist halt auch ein Stück Menschenwürde und ordentlich bedeutet für junge Leute weltweit halt nicht, Stoffhosen von vor 10 Jahren in Größen, in die sie 2x reinpassen und dazu ausgelatschte Lederschnürschuhe.

Aber was nicht da ist, kann halt nicht verteilt werden, weshalb dann viele lieber das waschen, was sie anhaben und die Kleiderkammern nicht nutzen. Andere, vor allem Ältere, waren dafür sehr froh, warme Sachen zu bekommen. Einige gute Sachen gab es ja auch. München ist halt reich und die abgelegten Kleider sind oftmals Markenklamotten, die vielleicht nicht mehr der letzte, aber der vorletzte Schrei sind oder aus denen die halbwüchsigen Söhne rausgewachsen sind. Da können aber die Flüchtlinge nichts dafür, die brauchen ja auch nicht extra arm gekleidet werden, damit sich keiner dran stört.

Lustig war es auch bei den Frauen. Viele fanden die Glitzer-Flip-Flops und Sandalen supertoll und wollten am liebsten gleich mehrere Paar. Wir haben versucht, zu erklären, dass das nicht geht, weil ja noch andere auch was brauchen. Außerdem haben wir ihnen in den düstersten Farben die Temperaturen im Winter beschrieben und empfohlen, dass sie doch lieber geschlossene Schuhe aussuchen sollten! Anfang September war es ja noch sehr warm, also hat uns keiner geglaubt. So zogen sie also davon mit Lacksandaletten und glitzrigen Ballerinas, hoffentlich haben sie mittlerweile in einer anderen Kleiderausgabe richtige Schuhe bekommen. Hier war die Stimmung eher wie im Shopping-Paradies. Auch darüber haben sich Leute aufgeregt. Aber Leute, bedenkt: Es sind junge Frauen. Sie haben alles verloren und nur die Kleidung, die sie am Leibe tragen. Sie haben nichts zu tun, außer in der Kleiderkammer rumzusuchen. Also lasst sie halt, es ist der einzige Spaß, den sie momentan haben.

Fazit dieser Erfahrung ist: jeder sollte mal mithelfen. Dann würden all die angsterfüllten Schwarzseher vielleicht begreifen, dass es sich hier nicht um eine anonyme bedrohliche Masse handelt, sondern um einzelne Menschen, unterschiedlich wie Menschen halt sind, mit den gleichen Gefühlen, Gedanken,  Vorlieben und Abneigungen wie wir, die Schreckliches hinter sich haben und die  anständig versorgt werden müssen. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit und hat nichts mit der politischen Ausrichtung zu tun.  Natürlich kommen sie aus Kulturkreisen, die uns fremd sind und müssen sich erst an unsere Art, die Dinge zu sehen, gewöhnen. Sie werden Deutschland verändern. Wir werden uns verändern. Das wird, wie alles im Leben, Vorteile und Nachteile haben.

Es wird schwierig. Aber wenn es überall so läuft wie in München, dann schaffen wir das. Gemeinsam. Und vielleicht kriegen wir irgendwann auch mal Hilfe von denen, die eigentlich zuständig wären und sie machen sich dran, die Aufgaben wahrzunehmen, für die sie gewählt wurden.

 

 

5 Gedanken zu „Die Welt bei uns“

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