Memory

Ich war ja ein paar Mal in der Durchgangseinrichtung in München/Dornach und hab dort die Erstaufnahme von total erschöpften Leuten begleitet, die dort für ein paar Stunden Ruhe gefunden haben. Die Erlebnisse dort waren intensiv und beeindruckend.

Jedenfalls habe ich mir gedacht, ich sollte mich vielleicht mehr an meinem Wohnort einbringen, als ich erfahren habe, dass die Turnhalle des Gymnasiums für Flüchtlinge geöffnet wird. Also habe ich Kontakt zum örtlichen Helferkreis aufgenommen und meine Bereitschaft erklärt, mitzuarbeiten.

Als erstes habe ich drei junge Männer aus Senegal zum Rechtsanwalt für Ausländerrecht begleitet. Der Leiter des Helferkreises war dankbar, jemanden dabei zu haben, der Juristisch auf Deutsch übersetzen konnte und die richtigen Fragen gestellt hat. Die Jungs haben abenteuerliche Reisen hinter sich, zwei kamen über Melilla, einer über Lampedusa ins gelobte Euroland. Aussichten, als politischer Flüchtling in Deutschland anerkannt zu werden, gleich Null. Es ging aber eher darum, die Abschiebung nach Italien/Spanien zu verhindern. Es ist schwierig, sich da eine Meinung zu bilden. Einerseits kann natürlich nicht jeder einen Status bekommen, der das gern hätte, schon klar, Dublin und so. Andererseits fällt es einem schon wesentlich schwerer,  so hart zu bleiben, wenn man die Leute persönlich kennt. Man erklärt ihnen halt, dass sie eigentlich keine Aussicht haben, versucht aber, die hoffnungsvollen Blicke nicht ganz in die Verzweiflung abstürzen zu sehen, indem man ihnen erklärt, dass das Verfahren Jahre dauern kann. Schwierig für alle Beteiligten. Die sind ja auch erst Anfang 20 und haben alles aufgegeben für eine unrealistische Hoffnung.

Dann war ich in der Turnhalle und habe mir angeschaut, wie die Leute dort leben. Reihen von Stockbetten, verteilt über den ganzen Raum, 200 Leute wohnen dort für einige Monate. Privatsphäre gibt es nicht. Männer, Frauen, Kinder, alle auf engstem Raum, alle Länder gemischt, alle Altersgruppen, vom Säugling bis zum Greis. Ein großes Problem scheint die Langeweile zu sein. Es gibt keinerlei Möglichkeit der Unterhaltung. Die Leute dürfen nicht arbeiten. Sie haben wenig Geld und können es sich nicht leisten, mit der S-Bahn in die Stadt zu fahren. Eine Münchner Vorstadt ist auch nicht gerade ein Platz, wo der Bär steppt. Hier ist definitiv nichts los. Also sitzen sie rum. Die Kinder quengeln und toben und lachen und schreien, was Kinder halt so tun. Es gibt ein paar Bobby-Cars und Dreiräder und ein paar Spiele, aber nur wenig geeignete. Was macht ein 10-jähriger Junge mit einem Dreirad? Fahrräder gibt es nicht.

Der Helferkreis überlegt also, was machen wir mit den Leuten, damit sie sich nicht so langweilen. Gestern gab es einen Videoabend. Ein Helfer hat einen DVD-Player und einen Bildschirm gebracht und einen Trickfilm abgespielt. Vor allem die Kinder waren total glücklich, aber auch die Erwachsenen haben sich gefreut.

Ich habe heute Memory angeboten. Innerhalb von 5 Minuten waren ungefähr 10 Mitspieler dabei, alles Jungs zwischen ca. 14 und 25, dazu zwei junge Frauen. Weitere 10 standen drumrum und haben zugeschaut und mitgequatscht, jeder in seiner Sprache, ein paar Kinder hingen an uns dran und wollten beachtet werden, letztendlich: ein Happening, bei dem viel gelacht wurde. Toll fand ich, dass die Mitspieler sich untereinander geholfen haben, die richtigen Karten aufzudecken!  Ich habe bei jeder Karte den deutschen Begriff genannt. Da es sich um ein Tierbaby-Memory handelt, war das recht lustig, einige haben versucht, die Namen auszusprechen. Koala ging gut. Kätzchen war eher ein Lacherfolg. Am Ende habe ich gefragt, woher sie alle kommen: aus Afghanistan, aus Syrien, Irak und Tschetschenien. Ein Afghane hatte einen Rosenkranz umhängen.

Ein geistig und körperlich eingeschränktes Kind war auch dabei. Der hellblonde Junge spricht mit schnarrender Stimme, hängt ständig an jemandem dran, es ist nicht erkennbar, wer seine Eltern sein könnten. Die anderen nennen ihn „Spider Man“ und ausnahmslos alle waren super nett mit ihm, die kleineren Kinder  haben ihn ganz lieb mit einbezogen, die älteren haben ihn auf sich klettern lassen. Kein einziger war ungeduldig. Man muss bitte immer sehen: Die Leute kennen sich erst seit ein paar Wochen. Sie gehören verschiedenen Nationalitäten an, die sich nicht alle grün sind. Sie haben Schlimmes erlebt und eine schwierige Zeit hinter sich.

Am Ende hab ich dann noch mit den kleinen Kindern die Karten gemischt und sortiert, zu einem richtigen Spiel hat es noch nicht gelangt. Dann waren alle zufrieden und ich konnte unter vielen freundlichen „Bye bye“ Rufen nach Hause gehen.
Es ist ja schon komisch, dass seit Paris so gut wie nichts mehr in der Zeitung steht zum angeblich größten Problem seit dem 2. Weltkrieg. Die Unterkunft, in der ich in den letzten Wochen einige Male geholfen habe, wird zum 30.11. geschlossen. Mittlerweile funktionierte dort die Registrierung, die Unterbringung, Versorgung und Kleiderkammer reibungslos. Die Leute wurden in einigermaßen kleine Räume verteilt, sensible Länderzusammenstellungen vermieden, das Essen wurde aufgrund vielfacher Anregungen der Johanniter, die die Unterkunft leiten, vielfältiger und es gab sogar recht leckeres warmes Abendessen. Probleme mit aggressiven Jungs gab es nicht, alles ging seinen Gang, das Team aus Ehrenamtlichen, Freiwilligen, Dolmetschern, Securities und den hauptamtlichen Leitern der Einrichtung war gut eingespielt.

Anstelle dessen hat sich die Regierung jetzt für eine Massenunterkunft mit 5000 Betten weit vor den Toren der Stadt entschieden, die erst noch zum Laufen gebracht werden muss. Niemand versteht, was das soll. Die hiesigen Helfer kommen größtenteils aus München, so dass sie den weiten Weg eher nicht auf sich  nehmen können, vor allem nicht, wenn sie berufstätig sind und nur ein paar Stunden helfen können. Natürlich gibt es auch in Erding sicherlich motivierte Leute, die ihr Bestes geben, aber die manpower der vielen  städtischen Freiwilligen geht halt dort verloren. Offenbar will man das so.

Von den Grenzen hört man so gut wie gar nichts mehr. Kommt da keiner mehr an? Gibt’s einen Nachrichtenstopp? Hat sich alles in Wohlgefallen aufgelöst? Wo sind die Menschenmassen, die angeblich alle vor unserer Tür stehen?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.